Maria Melchior: "Weniger Ungleichheit in Ländern mit starken sozialen Sicherheitssystemen."

MARIA MELCHIOR: GRUNDSATZREFERAT SOZIOÖKONOMIE AN DER ESCAP KONFERENZ 2017, GENF

Die Negativfolgen sozialer Ungleichheit auf die psychische Gesundheit von Kindern und die Gesellschaft

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 "Förderung der psychischen Gesundheit der Eltern, Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Bildung sowie frühzeitige Intervention bieten die besten Voraussetzungen für Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund. Einige experimentelle Studien zeigen, dass sich die Befreiung von Kindern aus der Armut sehr positiv auf ihr Verhalten und ihre psychische Gesundheit im Allgemeinen auswirken kann", so Maria Melchior, die am französischen Pierre Louis Institut für Epidemiologie und Gesundheitswesen forscht. Sie ist Mitglied von ERES (Equipe de Recherche en Epidémiologie Sociale), dem führenden Forschungsteam im Bereich Sozialepidemiologie der Universität Sorbonne und Inserm,der staatlichen französischen Forschungseinrichtung für Gesundheit und medizinische Forschung. Melchior ist eine Hauptreferentin an der ESCAP 2017 Kongress zum Thema Soziale Ungleichheiten und die psychische Gesundheit von Kindern.

"Viele Eltern dieser Kinder kämpfen selbst mit psychischen oder Drogenproblemen. Es ist allgemein bekannt: Leidet die Mutter unter Depressionen oder liegen andere psychische Probleme vor, wirkt sich dies auf die Kinder aus. Ein niedriger sozioökonomischer Status (SoS) scheint diesen Zusammenhang noch zu verstärken. Durch die Behandlung bzw. Aufklärung der Eltern hilft man also auch den Kindern. Die psychische Gesundheit der Eltern ist ein wirklich wichtiger Faktor, der bei der Hilfeleistung als Erstes betrachtet werden sollte, da dies ein Schlüsselmechanismus ist, über den ein niedriger SoS die Gesundheit von Kindern beeinflussen kann. Werden die Eltern nicht behandelt, werden sie schlichtweg nicht in der Lage sein, ihre heranwachsenden Kinder vor ähnlichen Problemen zu schützen. Und das geht mit allen sonstigen täglichen Schwierigkeiten einher, die jemand in niedrigen sozioökonomischen Verhältnissen hat." Melchior stellt die Eltern bei der Lösungssuche in den Vordergrund und in den Mittelpunkt, aber auch Bildung, Zugang zu medizinischer Versorgung und frühzeitige Behandlung.

Eltern können einiges bewirken
"Bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund ist das Risiko schwerer psychischer Erkrankungen immer sehr hoch. Natürlich haben wir es hier auch mit einem hohen Maß an Heterogenität und individueller Variabilität zu tun. Meine Untersuchungen drehen sich größtenteils darum, die damit zusammenhängenden Muster zu ergründen. Wir haben festgestellt, dass es verschiedene Faktorengruppen gibt, die erklären könnten, warum Kinder sich trotz einer Kindheit in Armut relativ gut entwickeln. Soziale Unterstützung ist ein wichtiger Faktor, der sich wirklich positiv auf Kinder auswirkt. Die Ergebnisse sind oft gut, wenn die soziale Unterstützung innerhalb der Familie stattfindet: Wenn Eltern trotz widriger sozioökonomischer Umstände Zeit mit ihren Kindern verbringen können, etwas mit ihnen unternehmen und positive statt negative Interaktion fördern. Selbstverständlich gibt es daneben weitere strukturelle Hilfsquellen von institutioneller Seite. Der Zugang zu frühzeitiger Kinderbetreuung könnte da einen großen Unterschied machen."

Obdachlosigkeit
Das ERES-Team erforscht genau diese Aspekte, um mehr über die verschiedenen Faktoren und Abläufe zu erfahren, die Ursache oder Konsequenz sozialer Ungleichheit in Sachen Gesundheit sein können. Der sozioökonomische Status (SoS) – die wirtschaftliche und gesellschaftliche Position eines Einzelnen oder einer Familie, gemessen an Einkommen, Bildung und Beschäftigung – und dessen Zusammenhang mit psychischer Gesundheit sowie der Zugang zu psychischer Gesundheitsfürsorge für Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt der Forschungsarbeiten von Melchior und ihrem Team. "Die sozioökonomische Position ist ein umfassendes Konzept", so Melchior. "Im Prinzip kann dies entweder über den SoS der Eltern – ihr Bildungsniveau oder die Höhe ihres Einkommens oder die Art ihrer Erwerbstätigkeit – oder das Fehlen einer Erwerbstätigkeit definiert werden. Doch die sozioökonomische Position lässt sich auch über die jeweilige Wohnumgebung oder umfassendere geografische Merkmale, die nicht an einen bestimmten Standort gekoppelt sind, definieren. Kinder können, ungeachtet ihrer persönlichen Situation, in einer ärmlichen Umgebung leben oder viel herumreisen. Ich nehme an einer Studie teil, die die psychische Gesundheit von Kindern obdachloser Familien untersuchte. Allesamt leiden sie unter großer Armut. Es ist wirklich wichtig herauszufinden, welche spezifischen Risikofaktoren es in Bezug auf die Probleme von Kindern solcher überaus bedürftiger Familien gibt."
"In Paris leben etwa 10.000 Familien mit Kindern, die kein festes Dach über dem Kopf haben. Familien, die bei Verwandten oder Freunden unterkommen, sind hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Und diese Zahlen datieren noch von vor der 'Einwanderungskrise'. Diese Menschen stellen sich jeden Abend bei den Obdachlosenunterkünften an. In großen europäischen Städte herrscht im Allgemeinen große Wohnungsnot. Wir beobachten bei diesen Familien ein sehr hohes Maß an psychischer Problematik, die hauptsächlich auf die Lebensumstände zurückzuführen ist."

Ernährungsunsicherheit
"Es gibt weitere spezifische Faktoren, die Kinder aus Familien mit niedrigem SoS betreffen. Dazu gehört die Ernährungsunsicherheit: mangelnder Zugriff auf ausreichende, sichere und nährstoffreiche Nahrungsmittel, die die Ernährungsbedürfnisse decken. Ernährungsunsicherheit kommt recht häufig vor. Wir wissen jedoch nicht genau, warum die psychische Gesundheit von Kindern, die in Familien mit unsicherer Lebensmittelversorgung aufwachsen, schlechter ist als bei Kindern, die in besseren Verhältnissen aufwachsen. Ernährungsprobleme können auch in Bezug auf die Familienstruktur eine Rolle spielen. Ernährungsunsicherheit ist entweder ein Zeichen für extreme Armut oder Ausdruck einer besonderen Situation, die nicht nur mit den sozioökonomischen Mitteln der Familie zusammenhängt, sondern auch damit, inwieweit Familien – bzw. in vielen Fällen die Mütter – mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen umgehen können. Wir stellen fest, dass Ernährungsunsicherheit besonders häufig in Familien vorkommt, in denen die Mutter unter psychischen Problemen leidet. Es ist also nicht nur eine Frage des Geldes, sondern hängt auch davon ab, wie gut die Eltern Haushalt und Familie managen und ihre Kinder erziehen können."

Vom (Klein-)Kind zum Erwachsenen
Maria Melchior war an Studien wie der GAZEL Follow-up-Kohortenstudie beteiligt (die zeigte, dass ein niedriger SoS langfristige Depressionen prognostiziert), an Kohortenstudien über die Beziehung zwischen Ernährungsunsicherheit und psychischer Gesundheit sowie an mehreren Studien, die Negativerlebnisse in der Kindheit an die Internalisierung von Symptomen koppeln und die Korrelation zwischen sozioökonomischen Verhältnissen und Verhaltensproblemen untersuchen. Die Ergebnisse sind für Familien mit niedrigem SoS häufig beklagenswert. Ungleichheit wird sehr häufig mit der Entwicklung psychischer Probleme und deren Hartnäckigkeit in Zusammenhang gebracht. Misshandlung, Vernachlässigung, unausgewogene Ernährung, soziale Isolation und schwere psychische Probleme kommen häufiger bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund vor. Und die Symptome können sich während des gesamten Übergangs vom Kindes- zum Erwachsenenalter manifestieren, was häufig zu schweren Verhaltungsstörungen und Drogenmissbrauch führt.
Melchior: "Wir sind uns dessen sehr bewusst. Dennoch ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auch auf andere, alltäglichere Formen von Stress im Leben von Kindern zu richten. Dazu gehören u. a. die Trennung der Eltern sowie die soziale Ausgrenzung gegenüber Altersgenossen. Diese Art von Vorkommnissen und ganz besonders deren gehäuftes Auftreten – wenn Kinder also in einem kurzen Zeitraum mehreren Vorkommnissen dieser Art ausgesetzt sind –, könnten sich auf ihr Verhalten auswirken. Und manchmal sind diese Auswirkungen dauerhaft. Wir stellten einen kausalen Zusammenhang zwischen niedrigem SoS und Angst bei Kindern fest, wobei manchmal psychosoziale oder psychosomatische Symptome und, bei älteren Kindern, Depressionssymptome auftreten. In den meisten Fällen war der Effekt nicht von sehr langer Dauer. Doch in einigen Fällen stellte er tatsächlich den ersten Schritt hin zu längerfristigen Angst- und Depressionssymptomen dar. Bei einer Studie über Ernährungsunsicherheit entdeckten wir ein ähnliches Muster."
"Die gute Nachricht: Kindern geht es fast sofort besser, sobald sich die Verhältnisse ändern. Zum Beispiel, wenn die Kinder eine Arbeit finden oder umziehen, wenn die Mutter ihre Beziehung stabilisieren kann oder einen Partner mit einem Einkommen findet. Zum Glück sind Kinder in den ersten Lebensjahren sehr flexibel."

Extreme Gewalt
"Extreme Gewalt ist häufig auf Situationen mit niedrigem SoS zurückzuführen. Nicht alle, aber viele Täter stammen aus unterprivilegierten Vierteln. Viele von ihnen haben ein geringes Bildungsniveau und ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko als andere. Dies gilt für viele Migranten der ersten und zweiten Generation in armen Stadtteilen. All dies wirkt sich auf die Kinder aus, die in diesen Verhältnissen aufwachsen."
"In Ländern mit starken sozialen Sicherheitssystemen gibt es weniger Ungleichheit und weniger Stressquellen. Das schließt nicht aus, dass es immer ein oder zwei Einzelpersonen geben kann, die Extremverhalten zeigen und damit andere in Gefahr bringen können. Doch insgesamt zeigen die Studien, dass Gesundheit tatsächlich mit dem Maß an Gleichheit in der Gesellschaft als Ganzes zusammenhängt. Weniger Ungleichheit wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus. Wir führen eine Studie durch, bei der wir frühzeitige Kindertagesbetreuung in Kanada, Frankreich und Dänemark vergleichen. Während dies in Kanada kaum angeboten wird, hat in Frankreich etwa die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu Kindertagesbetreuung, und in Dänemark sogar in sehr hohem Maß. Die Ergebnisse werden vermutlich zeigen, dass die Tagesbetreuung positiv zur Vermeidung psychischer Probleme beitragen kann. Zusammen mit Elternbildung und einem gut zugänglichen Gesundheitswesen kann dies ein weiteres Puzzlestück darstellen."

Aufruf der WHO
"Doch man sollte nicht vergessen, dass die meisten Determinanten psychischer Gesundheit außerhalb der Reichweite des Gesundheitssystems liegen. Für Entscheidungsträger im Gesundheitswesen oder Klinikärzte ist es wirklich schwierig, den Zugang zur Gesundheitsfürsorge für die am stärksten benachteiligten Familien zu verbessern. Dies obliegt größtenteils den Politikern, die eher kurzfristig denken. Der Ausschuss für soziale Gesundheitsdeterminanten der Weltgesundheitsorganisation empfahl vor Kurzem, alle Richtlinien in Bezug auf deren Auswirkung auf soziale Ungleichheiten und Gesundheit zu prüfen. Das wäre eine positive Entwicklung. Ich persönlich habe jedoch nicht den Eindruck, dass Politiker wirklich auf uns hören. Ich habe immer das Gefühl, dass andere Überlegungen vorrangig sind." 

Veröffentlichungen

Reducing global health inequalities, published by Stuart and Soulsby in the UK Journal of the Royal Society of Medice (2011).

Tackling health inequalities through action on the social determinants of health, UCL Institute of Health Equity (2014).

Selection of recent publications by Maria Melchior:

Parental social networks during childhood and offspring depression in early adulthood: a lifecourse approach.
Allchin A, Melchior M, Fombonne E, Surkan PJ.

Food insecurity and mental health problems among a community sample of young adults.
Pryor L, Lioret S, van der Waerden J, Fombonne É, Falissard B, Melchior M.

Peripheral and central alterations affecting spinal nociceptive processing and pain at adulthood in rats exposed to neonatal maternal deprivation.
Juif PE, Salio C, Zell V, Melchior M, Lacaud A, Petit-Demouliere N, Ferrini F, Darbon P, Hanesch U, Anton F, Merighi A, Lelièvre V, Poisbeau P.

Insights into the mechanisms and the emergence of sex-differences in pain.
Melchior M, Poisbeau P, Gaumond I, Marchand S.

Early emotional and behavioral difficulties and adult educational attainment: an 18-year follow-up of the TEMPO study.
Zbar A, Surkan PJ, Fombonne E, Melchior M.

A New Population of Parvocellular Oxytocin Neurons Controlling Magnocellular Neuron Activity and Inflammatory Pain Processing.
Eliava M, Melchior M, Knobloch-Bollmann HS, Wahis J, da Silva Gouveia M, Tang Y, Ciobanu AC, Triana Del Rio R, Roth LC, Althammer F, Chavant V, Goumon Y, Gruber T, Petit-Demoulière N, Busnelli M, Chini B, Tan LL, Mitre M, Froemke RC, Chao MV, Giese G, Sprengel R, Kuner R, Poisbeau P, Seeburg PH, Stoop R, Charlet A, Grinevich V.

What distinguishes successful from unsuccessful tobacco smoking cessation? Data from a study of young adults (TEMPO).
Khati I, Menvielle G, Chollet A, Younès N, Metadieu B, Melchior M.

A generic "micro-Stoney" method for the measurement of internal stress and elastic modulus of ultrathin films.
Favache A, Ryelandt S, Melchior M, Zeb G, Carbonnelle P, Raskin JP, Pardoen T.

New species and new records of freshwater Heterolepidoderma (Gastrotricha: Chaetonotidae) from Brazil with an identification key to the genus.
Garraffoni AR, Melchior MP.

Adolescent Repeated Alcohol Intoxication as a Predictor of Young Adulthood Alcohol Abuse: The Role of Socioeconomic Context.
Yaogo A, Fombonne E, Lert F, Melchior M.

Prenatal Caffeine Exposure and Child IQ at Age 5.5 Years: The EDEN Mother-Child Cohort.
Galéra C, Bernard JY, van der Waerden J, Bouvard MP, Lioret S, Forhan A, De Agostini M, Melchior M, Heude B; EDEN Mother-Child Cohort Study Group.

Early prenatal interview and antenatal education for childbirth and parenthood: Associated psychosocial and obstetric characteristics in women of the ELFE cohort.
Barandon S, Balès M, Melchior M, Glangeaud-Freudenthal N, Pambrun E, Bois C, Verdoux H, Sutter-Dallay AL.

Tobacco and alcohol use in pregnancy in France: the role of migrant status: the nationally representative ELFE study.
Melchior M, Chollet A, Glangeaud-Freudenthal N, Saurel-Cubizolles MJ, Dufourg MN, van der Waerden J, Sutter-Dallay AL.

Commonalities and specificities between attention deficit/hyperactivity disorder and autism-spectrum disorders: can epidemiology contribute?
Melchior M, Pryor L, van der Waerden J.

Commentary on Kosty et al. (2015): Cannabis abuse from one generation to the next-a heightened vulnerability in women?
Melchior M.

E-mental health care among young adults and help-seeking behaviors: a transversal study in a community sample.
Younes N, Chollet A, Menard E, Melchior M.

Developmental predictors of inattention-hyperactivity from pregnancy to early childhood.
Foulon S, Pingault JB, Larroque B, Melchior M, Falissard B, Côté SM.

Maternal Depression Trajectories and Children's Behavior at Age 5 Years.
van der Waerden J, Galéra C, Larroque B, Saurel-Cubizolles MJ, Sutter-Dallay AL, Melchior M; EDEN Mother–Child Cohort Study Group.

Maternal tobacco smoking in pregnancy and children's socio-emotional development at age 5: The EDEN mother-child birth cohort study.
Melchior M, Hersi R, van der Waerden J, Larroque B, Saurel-Cubizolles MJ, Chollet A, Galéra C; EDEN Mother-Child Cohort Study Group.

Psychological, social and familial factors associated with tobacco cessation among young adults.
Bowes L, Chollet A, Fombonne E, Melchior M.

Predictors of persistent maternal depression trajectories in early childhood: results from the EDEN mother-child cohort study in France.
van der Waerden J, Galéra C, Saurel-Cubizolles MJ, Sutter-Dallay AL, Melchior M; EDEN Mother–Child Cohort Study Group.

Intermediate outcomes of chronic disease self-management program offered by members of the Healthy Aging Regional Collaborative in South Florida.
Melchior MA, Seff LR, Albatineh AN, McCoy HV, Page TF, Palmer RC.

Characterization of the fast GABAergic inhibitory action of etifoxine during spinal nociceptive processing in male rats.
Juif PE, Melchior M, Poisbeau P.

Prenatal psychological distress and access to mental health care in the ELFE cohort.
Bales M, Pambrun E, Melchior M, Glangeaud-Freudenthal NM, Charles MA, Verdoux H, Sutter-Dallay AL.